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URBANSCAPES

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die hütte, die stadt & der toteissee

muvingstudies matthaei / reulecke

September 2012:

Wenn die Stadt unsere Natur, Rückzug möglich & das richtige Leben radikal einfach wären? Ein choreographischer Walk, eine ortsspezifische Inszenierung, eine offene Komposition für veränderbare Stadtlandschaften. Mit Thoreau, Cage, Kaczynski & Meins.

 

TRAILER

Henry David Thoreau schreibt 1854 in Walden, seiner literarisch-philosophischen Auswertung von zwei Jahren in selbstgebauter Hütte am See: “It is something to be able to paint a particular picture, or to carve a statue, and so to make a few objects beautiful; but it is far more glorious to carve and paint the very atmosphere and medium through which we look.” John Cage sagt 1991 in New York City: „When I hear what we call music it seems to me that someone is talking. And talking about his feelings or his idea of relationships. But when I hear the sound of traffic here on 6th avenue for instance I don‘t have the feeling that anyone is talking. I have the feeling that sound is acting – and I love the activity of sound.“ Durch diese beiden Folien schauen wir hindurch & haben vor einem Jahr begonnen URBANSCAPES zu entwickeln: Ein kollektiver Walk, eine ortsspezifische Choreographie, eine offene Inszenierung für die Stadtlandschaft rund um den Innsbrucker Platz.

Wir fragen uns, wie wir die Triebkräfte & den Widerstandsgeist der romantischen Natursehnsucht aufnehmen können, um die Wahrnehmung unserer heutigen Landschaft, der Stadt, zu gestalten. Anstatt ins vermeintlich Unberührte zu fliehen, suchen wir in der urbanen Umwelt überraschende Entdeckungen, plötzliche Perspektivwechsel, die Schönheit des Details, die ähnliche Effekte bei uns gehenden Betrachtern auslösen wie die Wanderung durch Naturlandschaften.

Nach Recherche-Trips durch unterschiedlichste Berliner Areale sind wir schließlich am Innsbrucker Platz gelandet & haben uns auf eigentümliche Weise in die Gegend verguckt: Wo das Flusstal der Stadtautobahn die Reste von Altbau-Bestand durchschneidet, Brandmauern auf Gräber aus den letzten Kriegstagen blicken, plötzliche Idyllen zwischen verlassenen Bahngleisen aufbrechen, das „atombombensichere Hochhaus“ aus den 50ern grüßt & die Asylbewerbercontainer der Nachwendezeit sich inzwischen in das Hostel für „unkomplizierte Berlinbesucher“ verwandelt haben… Alle paar Schritte eröffnen sich den Blicken & Körpern neue Atmosphären, wobei uns das gänzlich Unspektakuläre der Gegend anzieht, in der Berlin fernab vom Hype generisch wird, man sich in jeglicher (west-)deutschen Stadt wähnen kann & dadurch die Strukturen selbst klarer hervortreten.

Gleichzeitig ist der Gang in die Natur immer auch politisch: Thoreau baut sich 1845 seine Hütte am Waldensee, um aus Distanz zur Stadt & in größtmöglicher Vereinfachung seines Lebens zwischen Pritsche & Schreibtisch, Bohnenfeld & Kiefernwald einen klaren Blick auf die Überwucherungen menschlichen Lebens durch Arbeit & Konsum zu gewinnen. Wie wenig braucht 1 Mensch, um durchzukommen & seine Zeit & Energie für „höhere“ Beschäftigungen oder Faulenzen aufzusparen? Welche Automatismen & selbstgemachten Notwendigkeiten von Erwerb & Gemeinschaft halten uns davon ab, endlich das „richtige“ Leben zu führen, das doch fortwährend aufgeschoben wird?   Doch während Thoreau als Feind der Sklaverei den zivilen Ungehorsam propagiert, zweigt von seinem radikalen Individualismus noch eine andere Spur ab: Auch der Unabomber Ted Kacynski hatte Walden auf dem Brett seiner Hütte stehen, in der er hauste & Bomben bastelte, um die USA in vor-technologische Zeiten zurückzusprengen.

Und als 1972 Cage seine aus Thoreaus Text gewonnene Sprachpartitur „Mureau“ einliest, wird der ehemalige Filmstudent der Berliner dffb Holger Meins verhaftet. Der zwei Jahre später, kurz vor seinem Hungertod aus seiner Zelle schreiben wird: „kollektiv ist aber: JEDER IN SEINEM LOCH ENTSCHEIDET UND HANDELT KOLLEKTIV … entweder du bist ein teil des problems oder du bist ein teil der lösung. DAZWISCHEN GIBT ES NICHTS, so einfach und doch so schwer.“

Mit Tänzern & Musikern erforschen wir nun die subjektiven Möglichkeiten zwischen Mimikry & Aufmerksamkeitverstärkung, offensiven Interventionen & subtiler Manipulation des Realen. Gemeinsam mit weiteren unterschiedlichsten Akteuren bis hin zu Folklore-Enthusiasten, die entlang des Weges auftauchen, werden auch die Besucher Teil des offenen Scores. Eine Vielfalt von Körpern & Stimmen, welche die Umrisse & Untiefen des Toteissees „Walden Pond“ mitten in Berlin ausloten.

Inszenierung & Choreographie: Jörg Lukas Matthaei & Ingo Reulecke | Tanz/Performance: Katharina Meves, Franz Rogowski | Musik & Sounddesign: Klaus Janek, Biliana Voutchkova | Ausstattung & Kostüm: Dorothea Ronneburg | Video: Carlos Bustamante | Bewegungschor: Claudia Albrecht, Brigitte Geier, Ulrike Loebs, Eveline Krause, Lena Gebhardt, Petra Rostock, Andrea Krohn, Barbara Seifert, Clara Rodriguez García-Muñoz u.v.a.| Produktionsleitung: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro | Technische Leitung: Miriam Akkermann | Öffentlichkeitsarbeit: Nora Gores, Kunst-PR-ojekte | Projektmitarbeit: Katharina Malong

Fotos: Merlin Nadj-Torma

Eine Produktion von muvingstudies, unterstützt durch Dock 11 Berlin & die Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin, Abteilung Choreographie. Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.