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Laudatio : Kurz nachdem ich tot war

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Laudatio für die Produktion „Kurz nachdem ich tot war“ von matthaei & konsorten

Wir vergeben den Kurt-Hackenberg-Preis an die Produktion „Kurz nachdem ich tot war“.

Die Produktion zeigt eindrucksvoll, wie das Format der Stadt- und Ortserkundung in ein theatrales Konzept integriert werden kann. Sie schafft Spielorte in der Stadt, in den Häusern und verbindet diese Orte mit zeit- und lebensgeschichtlichen Geschehnissen. Sie macht Geschichte anschaulich.
Darüber hinaus ermöglicht die Inszenierung der Erkundung den Zuschauern eine ebenso ungewöhnliche wie anregende Form, Geschichte zu erfahren, sie zu verstehen und zu hinterfragen. Denn die Zuschauer werden in eine spannende Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte, Stadtgeschichte und Lebensschicksalen – sowie nicht zuletzt mit sich selbst – hineingezogen. Im Verlauf der dreistündigen Aneignung der Orte und Menschen und ihrer Geschichte(n) wird immer drängender eine Stellungnahme herausgefordert: „Wer bin ich in diesen Zeiten und in dieser Stadt? Wie hätte ich mich verhalten?“ Das ist auf geradezu beispielhafte Weise politisch. Und deshalb dieser Preis.

Hierzu einige Erläuterungen: Die anregende Form der jeweils in kleinen Gruppen durchgeführten Stadt- und Häusererkundung in Verbindung mit den über Kopfhörern während der Stadtwanderung vermittelten Zeugnissen von Kölner Zeitzeugen aus der Nazizeit, der Kriegs- und Nachkriegszeit, den politisierten 1970er Jahren sowie den turbulenten Hausbesetzerjahren der 1980er Jahre bis in die Jetztzeit vermittelt unmittelbare Lerneffekte. Was ist geschehen? Wie lebten die Menschen? Was taten sie?

Diese Lerneffekte sind nachhaltig, weil die Zuschauer an allen Stationen dieser ungewöhnlichen Ortserkundung einbezogen sind. Auf zweierlei Weise: zum einen werden sie durch die jeweilige Szene in den Häusern unmittelbar in das ‚Spiel‘ einbezogen. Sie werden zu Akteuren im Geschehen. Sie können Stellung beziehen. Dass sie es nicht müssen, sie zur Beteiligung nicht überfallartig und aktionistisch ‚genötigt‘ werden, ist Ausdruck einer konzeptionellen Überlegung. Denn Nachhaltigkeit entsteht auch durch die Möglichkeit der Interaktion in der jeweils kleinen Zuschauergruppe. Die Inszenierung verbindet die Zuschauer. Die durch die Inszenierung erweckten Eindrücke, Erfahrungen und Emotionen werden unmittelbar ausgetauscht. Die Inszenierung stiftet Kommunikation. Und nebenbei: diese Kommunikation spornt zur Beteiligung an. So kommen die Zuschauer über das Nachempfinden und Miterleben sowie über die Kommunikation untereinander zu einer konkreten politischen Reflexion: Sie erleben Zeitgeschichte und Politik als lebensbestimmende Kategorie. Sie erfahren: Es gibt kein Leben ohne Politik, oder in Abwandlung eines Wortes von Max Frisch: Wer glaubt, sich der politischen Stellungnahme enthalten zu können, macht sich zum passiven Objekt eben der Politik, die man so leichtfertig abtun zu können glaubte…

Zu loben ist auch die logistische Leistung der Produktion. In kurzen Abständen starteten jeweils 4er-Gruppen. In drei Stunden ging’s dann aus den Häusern des Belgischen Viertels zum Neumarkt, übers Griechenmarktviertel mit seiner 50er-Jahre-Wiederaufbauästhetik, dem „Kiosk met Hätz“ in der Poststraße, in die Südstadt, von dort aufs Schiff im Rheinauhafen und schließlich wieder zurück zum Ausgangspunkt. Alles wohlbehalten überstanden, trotz Novemberkälte…

Ein Letztes: Die Jury entschied sich einvernehmlich für diese Produktion. Jurymitglied Rainer Hofmann, der Kurator des „7. Festivals für Politik im Freien Theater“ der Bundeszentrale für politische Bildung, die auch Koproduzent der ausgezeichneten Produktion war, enthielt sich eben deshalb der Stimme.

Herzlichen Glückwunsch!
Hans-Georg Lützenkirchen

freie Volksbühne Köln e.V.